H. Oschwald: Pius XII. Der letzte Stellvertreter

Cover
Titel
Pius XII. Der letzte Stellvertreter. Der Papst, der Kirche und Gesellschaft spaltet


Autor(en)
Oschwald, Hanspeter
Erschienen
Gütersloh 2008: Gütersloher Verlagshaus
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nadine Ritzer, Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Universität Fribourg PHZ Luzern

Zum Gedenken an den 50. Todestag des am 9. Oktober 1958 verstorbenen Pius XII. legt der Journalist Hanspeter Oschwald eine umfassende Papstbiografie vor. Der Untertitel verweist auf Rolf Hochhuths Drama «Der Stellvertreter», welches 1963 eine heftige Kontroverse um die Haltung des zwölften Pius gegenüber dem Holocaust auslöste, die seither nicht mehr verstummt ist. Zahlreiche Publikationen in anklagender oder apologetischer Absicht sind inzwischen erschienen, ohne dass sich das Verdikt der einen oder anderen Seite seit den 1960er Jahren mit neuem überzeugendem Quallenmaterial hätte untermauern lassen. Auch die zwischen 1964 und 1981 veröffentlichte zwölfbändige Publikation der «Actes et documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre Mondiale» hat keine schlüssigen Erklärungen für das oft kritisierte Verhalten des Papstes gegenüber dem Nationalsozialismus, insbesondere in Bezug auf die Shoa, liefern können. Ob es die noch anstehende Freigabe der Dokumente aus dem Pontifikat Pius XII. vermag, darf zumindest bezweifelt werden.

Auch Oschwalds Werk will einen Beitrag zur Debatte leisten. Es wird versprochen, der Autor vermöge «aufgrund neuester Akteneinsicht im Vatikan» zahlreiche Mysterien und Fragen zum Leben Eugenio Pacellis aufzudecken. In 15 chronologischen Kapiteln breitet der Journalist den Lebensweg Pacellis in einem feuilletonistischen Stil vor den Lesenden aus. Faktenreich wird in den ersten sechs Kapiteln die Zeit vor der Papstwahl nachgezeichnet. Die Jugend des intelligenten, aus einer aristokratischen Römer Familie stammenden Eugenio sowie seine Studienzeit, in welcher er sich weniger theologisch als kirchenrechtlich schulte – Pacelli wurde in kanonischem Recht promoviert – wird lebendig geschildert. Scheinbar unaufhaltsam war die Entscheidung für das Priesteramt und der rasche Aufstieg in die vatikanischen Dienste.

Pius XII. «autoritäres Denken wie sein Kirchenverständnis» (13) erklärt Oschwald mit prägenden Erfahrungen in der Kindheit und Jugendzeit sowie mit dem historischen Rahmen, in welchem sich die katholische Kirche seit den Wirren des Risorgimiento bewegte. Nachvollziehbar schildert Oschwald die Veränderung der Stellung des Vatikans in Italien. Unterstrichen wird der zunehmende Zentralismus des Papsttums, der im Unfehlbarkeitsdogma gipfelte und in Deutschland in den Kulturkampf mündete.

Das Werk zeigt auch, wie Pacelli in jungen Jahren mit dem Antisemitismus in Berührung kam. Einer seiner Erzieher, bekannt für seinen Antisemitismus, habe den Grundschülern den Antijudaismus eingehämmert. Diese Eindrücke hätten den späteren Pontifex ein Leben lang geprägt, konstatiert der Autor. Gleichzeitig relativiert er die Wirkung des «früh gesäten Antisemitismus» (32), indem er aufzeigt, dass Pacelli in der Gymnasialzeit mit einem jüdischen Freund ein Abendessen am Sabbat eingenommen hat. Diesem verhalf er 1938 zur Auswanderung nach Palästina. Auch begegnete Pacalli dem Führer des zionistischen Weltkongresses, Nahum Sokolow, herzlich. «Von Antisemitismus keine Spur» (56). Dass Oschwald am Ende das Buches dennoch zum Schluss kommt, der Antijudaismus habe zu Pius XII. gehört wie er «systemimmanent nicht vom Christentum zu trennen ist» (281), wirkt nach den vielen apologetischen Belegen nicht ganz schlüssig.

Pacellis Erlebnisse als Nuntius in Deutschland (1917–1929) wirkten in seine Pontifikatszeit hinein. In München und Berlin wurde der päpstliche Botschafter sowohl mit dem Kommunismus als auch mit dem Nationalsozialismus konfrontiert. Pius’ XII. prägende Angst vor dem Sozialismus erklärt Oschwald unter anderem mit dem Überfall auf die Nuntiatur während der Wirren der Münchner Räterepublik (1919). Die oft geäusserte Ansicht, Pacelli sei bereit gewesen, den Bolschewismus mit Hilfe der Nationalsozialisten zu bekämpfen, leitet der Autor ebenfalls aus dem Scheitern der diplomatischen Bemühungen mit Russland ab. Bereits die erfolglosen Appelle Benedikts XV. während des Ersten Weltkrieges hätten Pacellis «Verhalten im Zweiten Weltkrieg und gegenüber dem Holocaust vorbestimmt» (48), glaubt Oschwald.

Im Buch werden auch die diplomatischen Erfolge des «Kirchenrechtlers» (280) aufgelistet, die zahlreichen Verträge und Konkordate (mit Serbien, Bayern, Preussen, Baden, Österreich), die unter Pecellis Federführung ausgehandelt wurden, wobei Oschwald es nicht unterlässt, das umstrittene Konkordat mit dem Deutschen Reich von 1933 mit dem Verweis auf die Böckenförde-Buchheim-Kontroverse von 1960/61 kritisch zu beleuchten und aufzuzeigen, wie dieses die weitere Politik des Vatikans gegenüber Hitlerdeutschland beeinflusste. Es ist eine der Stärken des Buches, den kaum zu erschütternden Glauben Pacellis an die Diplomatie zu erhellen. Auch das Profil eines unermüdlichen Lesers und Schreibers – Pacelli hat 41 Enzykliken und 1400 Ansprachen zu verschiedenen Zeitfragen verfasst – wird fassbar.

Gegen Ende des Buches erliegt Oschwald bedauerlicherweise wie viele vor ihm der Versuchung, über das Verhalten des Papstes gegenüber dem Holocaust ein Urteil zu fällen. Statt einer differenzierten Sichtweise folgt der zum Scheitern verurteilte Versuch, das Schweigen zur Judenverfolgung mittels Quellenbelegen aus päpstlichen Verlautbarungen, Reden und Medienberichten zu erklären und zu relativieren. Auf den zwanzig Seiten des Kapitels «Der Schweiger» finden sich kaum eine Äusserung, kaum ein Zitat, kaum ein Zeuge, welche nicht in der Hochhuth-Debatte 1963 ihre Geburtsstunde erlebt hätten. Das Schweigen «um Schlimmeres zu verhindern» (162) wird genauso als Argument angeführt wie das abschreckende Beispiel Hollands, wo ein Protest der Bischöfe verschärfte Massnahmen auch gegenüber konvertierten Juden nach sich zog. Daneben werden auch ein geheimer Brief an die polnischen Bischöfe, der von Bischof Sapieha vernichtet worden sei und die Mitarbeit Pacellis and der Enzyklika «Mit brennender Sorge» als entlastende Indizien im rhetorischen Prozess herangezogen. Weiter soll die auch von Hochhuth nie in Frage gestellte Hilfeleistung des Papstes und der Kurie für die jüdischen Verfolgten entlastend wirken.

Tatsache ist, dass mehrere Quellen existieren, welche zeigen, dass Pius XII. das Vorgehen der Nationalsozialisten missbilligte – doch Tatsache ist auch, dass eine vernehmbare Verurteilung der Judenverfolgung, expressis verbis, durch den Pontifex Maximus ausblieb. Gegenüber dem Bolschewismus äusserte er sich deutlicher. Mehrere Belege führt der Autor an, in denen der Pacelli-Papst den Kommunismus ausdrücklich verurteilte, so während der Wahlkämpfe in Italien unmittelbar nach dem Krieg (203). Somit muss Oschwalds Fazit, die Anklage gegen Pius XII. «zerplatzt im Licht der Fakten und des historischen Zusammenhangs» (262) auch weiterhin kritisch hinterfragt werden.

Das Werk kommt ohne kritischen Anmerkungsapparat und mit einer nur einseitigen Bibliografie aus. Es ist eine Schwäche des Buches, dass der Autor seine Aussagen oftmals nicht oder nur nachlässig belegt. Auch streitbare Behauptungen finden Eingang ins Werk, so die Vermutung Pater Gumepls, hinter den Angriffen auf Pius XII. im Selig- und Heiligsprechungsprozess stünden «jüdische Interessen» (249) oder die Aussage eines angeblichen Securitate-Generals, Hochhuth seien von kommunistischer Seite gefälschte Akten aus dem Vatikan zugespielt worden, um den Pontifex zu diffamieren (260). Am Ende des Buches bleibt die Frage offen, welches diejenigen Erkenntnisse sind, welche aus der angekündigten «neueste[n] Akteneinsicht» gewonnen wurden – es führt bedauerlicherweise kein Quellennachweis in die vatikanischen Archive.

Oschwalds Buch ist, so das Fazit, eine faktenreiche Biografie, die das leidvolle Leben des zwölften Pius in einer lebendigen Sprache erzählt, die aufzeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit sich dieser Papst und überzeugte Marienverehrer als Stellvertreter Christi inszenierte, indem er als «absolutistischer Monarch in hellenistisch-römisch imperialer Tradition dachte und handelte» (280). Seinen Anspruch der «quasi göttlichen Autorität» (9) kann das Buch überzeugend darlegen, doch neue Erkenntnisse für die historische Forschung vermag auch dieses Werk über Pius XII. nicht zu liefern.

Zitierweise:
Nadine Ritzer: Rezension zu: Hanspeter Oschwald, Pius XII. Der letzte Stellvertreter. Der Papst, der Kirche und Gesellschaft spaltet, Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 364-366.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit